Let’s Retroplay: Shadow of the Colossus

Wo ist eigentlich die Grenze zwischen Game und Retro-Game? Das ist inzwischen nicht mehr nur eine Frage von Jahren, die seit Erscheinen des Games vergangen sind, sondern auch von anderen Dingen, insbesondere die Art und Weise der Vermarktung. Wenn ich ein Game im (nicht-virtuellen) Laden auf einer runden Plastikscheibe kaufe, die ich zuhause ins Laufwerk schiebe und dann das Game ohne Unterbrechung und zusätzliche Kosten spielen kann, und zwar offline, dann komme ich mir inzwischen alt vor.

Also, Shadow of the Colossus ist 8 Jahre alt und zudem noch auf dem „alten Weg“ vertrieben worden – CD kaufen, ins Laufwerk stecken, spielen. Hach, das waren noch Zeiten.

Shadow of the Colossus (SOTC)

So, aber mal ganz von vorne. Shadow of the Colossus (SOTC) erschien 2006 ausschließlich für die Playstation 2 und ist auch heute für keine andere Plattform erhältlich außer als eine Sonderedition für die PS3. Warum reden wir hier von SOTC? Weil es eins der besten Computerspiele aller Zeiten ist. Es gehört in die Kategorie „Wenn man das Ding nicht kennt, hat man eigentlich überhaupt keine Ahnung.“. Sprich: Man muss das Game nicht unbedingt mögen, aber man MUSS es kennen.

Sie sehen, ich bin einigermaßen begeistert von SOTC. Aber bevor Sie weiterlesen, muss ich Ihnen was gestehen. Kommen Sie mal etwas näher an den Bildschirm, ich muss jetzt leise schreiben: Ich habe SOTC nie gespielt. Ich besitze nicht mal ne Playstation.

Anderen beim Zocken zugucken soll Unterhaltung sein??

Wie kann ich mir dann anmaßen, hier in aller Öffentlichkeit herumzutönen von wegen „Super-Game“? Nunja, ich hab mir ein Let’s Play angesehen, und zwar komplett (ca. 5 Stunden). Und wissen Sie was, liebe Programmverantwortliche der deutschen TV-Sender? Diese 5 Stunden haben mich emotional mehr umgerissen als ALLES, was ich bei Euch in den letzten 10 Jahren gesehen hab.

Dieses Let’s Play war 5 Stunden lange Bildschirm-Unterhaltung vom Feinsten. Mir ist bewusst, dass Sie, liebe Programmverantwortliche, keine Ahnung haben, wovon ich hier rede. „Der guckt sich 5 Stunden lang an, wie irgendein wildfremder Typ ein Computerspiel spielt? Der nimmt doch Drogen!“, werden Sie denken. Wie gesagt, der Zug namens „Medien-Zukunft“ ist für Sie eh schon lange abgefahren.

Mädchen & Pferdchen

Zurück zum eigentlichen Spiel. Es geht los mit einem ungewöhnlich langen Intro, in der man sehr stimmungsvoll in die Fantasy-Welt von SOTC eingeführt wird und die Rahmenhandlung äußerst gekonnt erzählt wird. Ein namenloser, junger Reiter eilt auf seinem schwarzen Ross durch menschenleere Landschaften. Das erinnert ziemlich an die Reiter in der Film-Trilogie Der Herr der Ringe, wo die Helden auf ihren Reittieren durch die einsamen Landschaften von Mittelerde a.k.a. Neuseeland hoppeln.

Jedenfalls, unser Reiter in SOTC trägt ein großes, in eine Decke gehülltes Objekt mit sich.

Der Reiter erreicht eine riesige Tempelanlage und durchreitet die gigantische Haupthalle des Tempels. Am Ende der Halle befindet sich ein Altar sowie eine Kuppel, an dessen Spitze sich eine runde Auslassung befindet, durch die blendend die Sonne hereinstrahlt.

Der Reiter steigt von seinem Pferd, hebt das eingewickelte Objekt auf den Altar und entfernt die Decke – es ist eine junge Frau, offenbar tot. Wie fast alle Figuren in SOTC bleibt auch sie namenlos. Die Figuren haben zwar Namen (kann man googeln), aber sie werden im Game selbst nicht genannt.

Der Reiter beginnt einen Dialog mit einer körperlosen Stimme, die aus dem schimmernden Kuppeldach zu kommen scheint. Eigentlich sind es zwei Stimmen, eine männliche & eine weibliche, die gleichzeitig reden. Jedenfalls macht der Reiter einen Deal mit dem Körperlosen: „Erwecke das tote Mädchen wieder zum Leben, dafür mache ich, was du verlangst“. Die Stimmen verlangen von ihm, 16 Kolosse zu töten.

Rätsel & noch mehr Rätsel

Dann geht das Game los. Man muss 16 gigantische Wesen töten, und wenn ich „gigantisch“ sage, dann meine ich nicht „T-Rex“, sondern „Godzilla“.

Nochmal zurück zum Intro: Ist Ihnen aufgefallen, was dieses Intro einem alles NICHT sagt? Glauben Sie, das tote Mädchen ist die Geliebte des Reiters? Klar glauben Sie das, ist ja auch ne vernünftige Annahme, schließlich würde der Reiter ja alles tun, damit sie wieder lebt. Aber das Intro sagt das nicht.

Die tote junge Frau könnte auch seine Schwester sein. Oder seine Mutter – obwohl, das wäre Quatsch, weil die beiden anscheinend gleich alt sind. Aber mehr dazu am Ende.

Wir kennen auch nicht die Namen der Hauptfiguren. Wir wissen auch nicht, warum die körperlosen Stimmen den Tod der 16 Kolosse wollen. Wir wissen nicht, wer hier der Gute oder der Böse ist. Etc. etc. 1000 offene Fragen, und im Lauf des Spiels kommen immer mehr dazu.

Die Pointe: Die ganze Story funktioniert trotz dieser ganzen Auslassungen, oder gerade wegen ihnen. Die Motivation für Sie als Spieler ist klar: Ziel des Games ist die Wiedererweckung des Mädchens. Dafür müssen Sie 16 Kolosse abmurksen. Mehr müssen Sie gar nicht wissen, abgesehen von der Spielsteuerung. Eine simple Story ohne überflüssige Informationen. Habt Ihr mitgeschrieben, Ihr depperten Hollywood-Drehbuchschreiber?

Reiten & Kämpfen

Sie besteigen also das treue Pferdchen und reiten hinaus in die Landschaft, auf dem Weg zum ersten Koloss. Nun, was ich und die meisten Gamer hier erwarten würden, wäre, dass man sich erstmal durch Monsterhorden kämpfen muss und der Koloss der Levelboss ist. So ist das aber nicht. Es gibt nur die Kolosse, sonst nix.

Das Game besteht hauptsächlich aus Koloss-Kämpfen und dem Reiten durch Landschaften auf dem Weg zum nächsten Koloss. Letzteres mag langweilig klingen, aber die Grafik, die Sounds, die ganze Stimmung der gottverlassenen Landschaft hat etwas Kontemplatives (=seelische Entspannung) und ist ein großartiger emotionaler Kontrast zu den nervenzerfetzenden Kämpfen.

Schuld & Sühne

So, wie killt man einen Koloss? Wir müssen an ihnen hochklettern und ihre Schwachstellen finden. An diesen Punkten rammt man ein paar Mal sein magisches Schwert rein, und gewonnen. Klingt leichter als es ist, aber wir wollen hier nicht allzu sehr ins Detail gehen.

Die Kolosse sind eigentlich keine Bösen – sie greifen den Spieler nicht von selbst an. Man muss sie mit Pfeil und Bogen beschießen, um sie auf sich aufmerksam zu machen.

Jedenfalls – wenn das erhabene Geschöpf mit einem Todesseufzer langsam und donnernd zu Boden geht, fragt man sich: Warum hab ich dieses Wesen jetzt eigentlich umgebracht? Man fühlt sich ein bisschen mies.

Schwarz & Weiß

Aber dann passiert etwas Seltsames: Aus dem Überresten des toten Kolosses schießt ein weißer Lichtstrahl gen Himmel. Diese Lichtstrahlen sind weithin sichtbar, selbst vom Tempel aus kann man sie sehen, wie ein Mahnmal „Hier hast du einen Koloss vernichtet!“.

Noch schlimmer: nicht nur weißes Licht dringt aus dem Inneren des gemeuchelten Titanen, sondern auch schwarzes, in Form von Tentakeln greift es nach dem Spieler und erwischt ihn auch jedes einzelne Mal, Flucht unmöglich. Der Reiter erwacht jedesmal danach auf dem Boden des Tempels.

Dort ist er nach jedem Tod eines Kolosses umgeben von Schattenwesen, die ihn umringen. Stehen einfach nur um ihn herum, während er sich wieder aufrappelt. Bei jedem Koloss-Tod kommt immer ein neuer Schattenmann dazu. Was das bedeutet? Keine Ahnung. Das ist eine der 1000 Fragen, die man sich stellt.

Spoiler & Ende

Alle, die sich die Spannung noch bewahren wollen, sollten hier zu lesen aufhören. Allen anderen erzähle ich jetzt nicht nur das Ende, sondern auch die Auflösung von SOTC, zumindest meine Interpretation.

Bei der Vernichtung des letzten Kolosses fährt auch das 16te schwarze Licht in den Reiter, der sich daraufhin im Tempel in einen schwarzen Dämon verwandelt. Inzwischen ist eine Gruppe von Reitern im Tempel angelangt, die (vermutlich) aus der Heimat unseres jungen Reiters stammen und nun verhindern wollen, was immer der Naiviling dort anstellt, aber sie kommen fast zu spät.

In der Gruppe der Neuankömmlinge befindet sich ein Zauberer, der den schwarzen Dämon vernichtet, und damit auch augenscheinlich unseren Helden. Die Gruppe verlässt den nun menschenleeren Tempel. Nur auf dem Altar liegt immer noch das tote Mädchen.

Das jetzt aufsteht und natürlich keinen Schimmer hat, wo sie ist, und wer und warum überhaupt. An der Stelle, wo der schwarze Dämon starb, findet sie einen Säugling. Das ist unser junger Reiter, oder vielmehr das, was von ihm nach der Dämonenaustreibung übrig geblieben ist.

Realität & Liebe

Nur, um das mal klarzustellen. Der Reiter (=der Spieler) hat tatsächlich das Mädchen gerettet, und musste dafür fast mit seinem Leben bezahlen, aber nur FAST, denn er ist am Leben. Nur hat er nix davon, denn er ist jetzt ein Baby. Er wurde quasi in der Zeit zurückversetzt.

Besser als nix, werden Sie vielleicht sagen. Dann müssen die beiden halt ein paar Jahre warten, bis der Reiter halbwegs erwachsen ist. Gut, dann ist sie wahrscheinlich doppelt so alt wie er, aber was solls? Wo die Liebe hinfällt, halt.

Aber ist es wirklich so einfach? Der Reiter ist jetzt ein Baby, das bedeutet, er wird anders aufwachsen als sein altes Ich. Er wird sich wahrscheinlich in ein Mädel seines Alters verlieben, statt in diese jetzt reife Frau, die ihn als Baby fand, und sehr wahrscheinlich seine Mutterrolle übernimmt. Fragen über Fragen. Wie Sie sehen, regt das Game zum Nachdenken an. Was besseres kann auch ein Game eigentlich nicht tun.

Schwarz & Weiß 2

Nicht nur über das überraschende Ende grübelt man als Spieler nach. Genauer gesagt, als Betrachter des Let’s Plays. Man fragt sich: Ist es richtig, was ich hier tue? Ist es richtig, nicht über die Konsequenzen meiner Handlungen nachzudenken? Bin ich eigentlich der Gute oder der Böse? Gibt es diese Unterscheidung überhaupt, Schwarz und Weiß?

Als der Reiter von dem körperlosen Wesen, dessen Name als einer der ganz wenigen im Game genannt wird (es heißt Dormin) das Angebot bekommt, das Mädel wiederzubeleben, wenn er die Kolosse tötet, zögert der junge Held (?) keine Sekunde. Er fragt nicht mal, warum er die Kolosse beseitigen soll.

Er macht sich keine Gedanken um Dormin und die seltsamen Schatten-Tentakel, die aus den toten Kolossen dringen und ihn in einfahren, und wie das alles zusammehängt. Der Reiter hat zwar scheinbar ein edles Motiv, nämlich die Wiederbelebung seiner Freundin, aber letztenendes ist es ein egoistisches Motiv. Dafür müssen 16 erhabene, anmutige Kreaturen sterben, die eigentlich niemandem etwas getan haben.

Aber auch das ist ein Schwarz-Weiß-Denken, über das sich SOTC hinwegsetzt. Wenn man die Hintergrund-Story erstmal begriffen hat, weiß man, dass die Kolosse keine Lebewesen sind, sondern Dinge. Genauer gesagt, es sind Tresore mit automatischer Selbstverteidigung. Mehr nicht. Daher ist das Bedauern, das man bei ihrer Vernichtung empfindet, eigentlich nur die irrationale Folge einer Vermenschlichung ihrer Gestalt.

Man kann den Kolossen deutlich ansehen, aus was sie gemacht sind: Aus Landschaft. Sie bestehen aus Felsen, Gras, Teilen von Steinruinen und von Tieren, Bäumen etc. Weiße Magie (das weiße Licht) wurde dazu benutzt, sie aus Teilen der Landschaft zu formen, um in ihnen die 16 Teile des einstmals körperlichen Dormin zu versiegeln, der sich der Schwarzen Magie bzw. Schwarzen Lichtes bedient.

Die schwarzen Tentakel, die beim Tod der Kolosse in den Reiter eindringen, repärsentieren eines der 16 Teile, in die Dormin einst gespalten wurde. Sind alle 16 Teile beisammen, kann Dormin wieder auferstehen. Was er tut im Körper des Reiters, als dieser sich in den schwarzen Dämon verwandelt.

Gut & Böse

In Shadow of the Colossus gibt es kein Gut oder Böse. Klar, wir sehen im Schwarzen Licht und damit in Dormin das Böse, aber letztenendes ist er nur ein übernatürliches Wesen, das von anderen Überwesen, nämlich denen des Weißen Lichts,  in die Kolosse eingesperrt wurde, und sich verständlicherweise zu befreien versucht.

Keine der Figuren tut etwas, das sie als wirklich moralisch Bösen auszeichnet. Nicht die Kolosse, nicht Dormin, auch nicht die Schattenwesen. Es gibt nur eine Ausnahme: Der Spieler/der Reiter. Er ist die einzige Figur, die Böses tut: er zerstört, aus einem egoistischen Motiv heraus.

Shadow of the Colossus ist Erzählkunst allerhöchster Kajüte.

Pferd & Emotionen

Ich beschreibe nun den emotionalsten Moment des Games, holen Sie sich schon mal ein Taschentuch. Am besten ne ganze Packung. Das ist eine Szene, in der selbst der Kommentator des Let’s Plays erstmal schluchzend das Gamepad weglegt und unheimlich bewegt ist.

Die wichtigste Figur für den Spieler in SOTC ist sein Pferd. Das ist eine treue und mutige Seele, die ihn nicht nur von Kampf zu Kampf transportiert, sondern ihm auch tapfer bei seinen Kämpfen hilft, sofern ihr das als Pferd möglich ist.

Das Pferdchen verhält sich insgesamt wie ein echtes treues Tier. Wenn ein Koloss erscheint, läuft es erstmal davon. Kein Problem, denn für die meisten Koloss-Kämpfe brauchen wir Hottahü nicht. Wenn wir aber nach ihm pfeifen, galoppiert Pferdchen brav zu uns, egal wieviel Angst es vor dem Koloss hat.

Ebenfalls typisch für unseren vierbeinigen Freund ist, dass er nicht über Klippen oder Abgründe springt, wenn er nicht will. Nun gibt es eine Stelle im Game, das ist der Weg zum letzten und alles entscheidenden Koloss. Der Weg führt über eine brüchige Steinbrücke, die zusammenkracht, wenn wir versuchen, zu Fuß über sie zu laufen, wobei wir in unseren Tod stürzen.

Der einzige Weg, die Brücke schnell genug zu überqueren, ist mit Pferdchen. Das Ross verweigert sich aber, zumindest beim ersten Versuch. Wir müssen Pferdi quasi zwingen, uns schnell genug über die einstürzende Brücke zu tragen.

Beim letzten Stein der einstürzenden Brücke schafft der Spieler es gerade noch, zum rettenden Abhang zu springen. Aber Pferdi – stürzt verzweifelt wiehernd in den Abgrund!
*lufthol* – NNNNEEEEEIIIIIIINNNNNNN!!!!!!! Oh nein, oh mein Gott, oh NEIN! Pferd! MEIN Pferd! Der Charakter im Spiel, der mir über 5 Stunden lang treu gedient hat, und den ich zwang, über diese Brücke zu laufen, obwohl er nicht wollte, ist jetzt tot! Wegen mir! Ich bin schuld! Und nochmal: *lufthol* – NNNNEEEEEIIIIIIINNNNNNN!!!!!!!

*schluchz heul jaul schnief schneuz*

Ach ja, bevor ich es vergesse: Der namensgebende „Schatten des Kolosses“ sind wir übrigens selbst, also, der Spieler.

Und Pferdchen ist nicht wirklich tot.

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